April 18, 2024

Kolumne vom 22.04.2019

Kolumne vom 22.04.2019 – Nr.557


Johan Harstad

daumen rauf

Max, Mischa & die Tet-Offensive

Max Mischa die Tet Offensive

Max Hansen wächst in Stavanger der 1980er Jahre auf, wo die Väter für Monate auf Ölplattformen verschwinden, während die Kinder im Märchenwald Vietnamkrieg spielen. Ein Idyll – bis Max‘ Familie in die USA emigriert. Während der Vater nun von Long Island aus um die ganze Welt fliegt und so selten zu Hause ist, dass die Ehe der Eltern daran zu zerbrechen droht, rücken Max und seine ebenso einsame Mutter näher zusammen. Bis Mordecai kommt, der zunächst Max‘ bester Freund und später ein bekannter Schauspieler wird. Er macht ihn auch mit Mischa bekannt, einer sieben Jahre älteren bildenden Künstlerin. Max und Mischa verlieben sich ineinander. Sie ist es auch, die Max anstiftet, sich auf die Suche nach seinem geheimnisvollen Onkel zu machen, einem Vietnam-Kriegsveteranen, mit dem sein Vater vor langer Zeit gebrochen hat. Und sie finden ihn tatsächlich. Es bildet sich eine unkonventionelle WG, in der man einander mit Großmut und Verständnis begegnet, diese wird zum Epizentrum des Lebens von Max, Mischa, Mordecai und Onkel Owen.

Ein Roman, der einschlägt! Mehr als 1.200 Seiten und trotzdem kommt nie das Gefühl von Langeweile auf. Das alleine ist schon ein Kunststück. Johan Harstad kann einfache Dinge besonders erzählen! Man verliert und verliebt sich in seine Sprache. Max, Mischa und die anderen haben schnell einen Platz im Herzen des Lesers. Man erlebt mit ihnen eine besondere Zeit. Erlebt die Katastrophen des Alltags, des Familienlebens und der Liebe. Zentral ist auch das Thema Freundschaft. Die Kunst und das Auswandern und in einem anderen Land sesshaft werden gesellt sich hinzu. Der Roman bietet so unheimlich viele tolle kleine Geschichten in der großartigen großen. Man könnte hier ganz viele Sätze zitieren, einer stach mir, wegen des Buchtitels, besonders ins Auge. Als Max mit seinen Freunden im sommerlichen Norwegen 1988 den Vietnam-Krieg, die Tet-Offensive spielt, fällt der Satz: „Am nächsten Tag werden wir mit der fünften Klasse beginnen, aber vorher gilt es, einen Krieg zu gewinnen“.

Rowohlt, 1.242 Seiten; 34,00 Euro


Johanna Holmström

daumen runter

Die Frauen von Själö

Die Frauen von Själö

In einer Herbstnacht im Jahr 1891 ertränkt Kristina Andersson ihre zwei schlafenden Kinder im Meer. Sie kommt in die Nervenheilanstalt auf Själö, einer Insel im Schärengarten Finnlands – kaum eine der Patientinnen, die hier eingewiesen werden, verlässt die Insel jemals wieder. Vierzig Jahre später wird die siebzehnjährige Elli ebenfalls dort eingeliefert. Sie wünschte sich mehr vom Leben als die Enge ihres Elternhauses. Sie lief von zu Hause weg, verliebte sich Hals über Kopf und musste vor der Polizei fliehen. Doch zu ihrer Zeit erlaubt man Frauen den Ausbruch aus ihrem Leben nicht. Jetzt ist sie ebenfalls gefangen auf der Insel Själö, wo die Zeit stillzustehen scheint …

Die adrette und junge Finnin Johanna Holmström konnte mit ihrem ersten Roman auf Deutsch, „Asphaltengel“, auf sich aufmerksam machen. Ich war gespannt auf ihren neuen Roman. „Die Frauen von Själö“, bei dem Buchtitel hatte ich schon eine Geschichte vor Augen. Doch konnte der Roman meine Erwartungen nicht erfüllen. Zu dunkel, zu grau, zu langweilig ist die Geschichte, deren Hintergrund allerdings interessant, aber eben auch schwer ist. Johanna Holmström skizziert die Frauen durchaus eindrucksvoll, auch die Umgebung beschreibt sie ebenso eindrucksvoll, aber das sind alles nur Bruchstücke, die nicht ausreichen, um die Geschichte als Ganzes loben zu können.

Ullstein, 364 Seiten; 22,00 Euro


Grady Hendrix

daumen rauf

Der Exorzismus der Gretchen Lang

Der Exorzismus der Gretchen LangCharleston, South Carolina, 1988: Abby Rivers und Gretchen Lang sind seit ihrer Kindheit beste Freundinnen. Als die beiden Freundinnen mit zwei anderen Mädchen eines Abends LSD nehmen, scheint die Droge keine Wirkung zu zeigen. Doch dann will Gretchen nackt schwimmen gehen und kehrt nicht zurück. Erst am nächsten Morgen findet Abby die völlig verwirrte Gretchen in einer unheimlichen, verfallenen Hütte im Wald. Was zuerst wie die Folgen des LSD-Rauschs aussieht, wird immer unheimlicher. Gretchen verändert sich, vernachlässigt ihr Äußeres, hat Halluzinationen, wird paranoid und zieht eines Tages sogar eine ganze Heerschar von Vögeln an, die sich gegen die Fensterscheiben ihres Hauses stürzen. Zu allem Überfluss dringen nachts Sex-Geräusche aus Gretchens Zimmer, woraufhin die christlichen Eltern ihre Jungfräulichkeit überprüfen lassen – ohne Ergebnis. Gretchens beste Freundin Abby hat einen schrecklichen Verdacht: Ist Gretchen von einem Dämon besessen? Oder treibt die schwüle Hitze Charlestons nun auch Abby in den Wahnsinn?

Ein Horrorthriller, den man am besten nicht unter der Bettdecke lesen sollte! Verstörend, fesselnd, faszinierend. „Der Exorzismus der Gretchen Lang“ ist ganz im Stil von bekannten Hollywood-Exorzismus-Filmhighlights verfasst. Mit den beiden Hauptcharaktere Abby Rivers und Gretchen Lang kann man richtig mit leben- und leiden. Grady Hendrix beschreibt sie ausgesprochen menschlich. Ein besonderes Gimmick des Romans ist die Zeit, in der er spielt. Die so unschuldigen 1980er und dazu noch das High-School-Ambiente, besser hätte Grady Hendrix seine Geschichte nicht ansiedeln können. Zu allem hat das Buch auch noch eine tolle Aufmachung.

Knaur, 378 Seiten; 16,99 Euro


Ransom Riggs

daumen rauf

Der Atlas der besonderen Kinder

Der Atlas der besonderen Kinder

Miss Peregrine kehrt gemeinsam mit Jacob, Emma und den anderen besonderen Kindern in Jacobs Heimat Florida zurück. Gemeinsam versuchen sie, sich in die moderne Zeit einzufügen – inklusive langen Strandspaziergängen und anderen normalen Tätigkeiten. Doch die amerikanischen Zeitschleifen, in denen sich die Besonderen vor der Welt verbergen, sind noch weitgehend unerforscht und schon bald ist Miss Peregrine von der Idee fasziniert, einen Atlas der Schleifen anzufertigen. Dann findet Jacob heraus, dass sein Großvater Abe nicht alleine gegen die Monster gekämpft hat, die die besonderen Kinder jagen – und dass Abes Partner noch lebt. Aber auch altbekannte Feinde sind lebendiger, als es Jacob lieb ist….

Ransom Riggs hat mit seinen Büchern um die „besonderen Kinder“ bereits zu seinen Lebzeiten Klassiker der Fantasy-Literatur erschaffen! Nicht zuletzt die erfolgreiche Verfilmung von Tim Burton machten die Bücher endgültig zum Kult. Nun ist der vierte Band der Reihe erschienen. „Der Atlas der besonderen Kinder“ enthält wieder alles, was man sich von der fantastischen Fantasy-Reihe wünscht. Einprägende Charaktere, mystisches Seeting, Spannung und ein wunderschön gestaltetes Buch!

Knaur, 506 Seiten; 18,00 Euro


Alexander von Humboldt

daumen rauf

Der Andere Kosmos

Der Andere Kosmos

Alexander von Humboldts Aufsätze, Artikel und Essays haben eine einzigartige Verbreitung erfahren: An die 800 Texte in 15 Sprachen zu 30 Disziplinen aus 750 Medien an 250 Publikationsorten auf 5 Kontinenten. 70 Jahre lang hat er veröffentlicht – von 1789 bis 1859. „Der Andere Kosmos“ enthält eine Auswahl. Dazu gehört der berühmte Selbstversuch mit Zitteraalen, den er in Südamerika unternommen hat. Diese Tiere können mit ihren elektrischen Schlägen Pferde töten. Humboldt hat es überlebt und ausführlich darüber berichtet. Dazu gehört auch sein letzter Brief an die Öffentlichkeit, den er kurz vor seinem Tod im Alter von 90 Jahren verfasste und der weltweit publiziert wurde. Humboldt bittet darin höflich, ihn mit diversen Anliegen zu verschonen, inklusive des Angebots, ihn häuslich zu pflegen, zu zerstreuen und zu erheitern. Denn seine Zeit werde jetzt knapp, und er wolle sie seiner Forschung widmen.

Ein Buch, das für Entdecker des Genies Alexander von Humboldt eine wahre Fundgrube darstellt! 70 Texte, 70 Orte, 70 Jahre von 1789 bis 1859, dass alles ist in diesem Buch, dem „Anderen Kosmos“, vereint. Wer bisher nur wenig von Alexander von Humboldt gelesen hat, der bekommt mit diesem Buch einen besonderen Einblick in die Welt dieses Ausnahmemannes.

dtv, 448 Seiten; 30,00 Euro


Hörbuch der Woche

daumen rauf

Brigitte Glaser

Rheinblick

Rheinblick cd

Deutschland, im November 1972: Niemand kennt das Bonner Polittheater besser als Hilde Kessel, legendäre Wirtin des Rheinblicks. Bei ihr treffen sich Hinterbänkler und Minister, Sekretärinnen und Taxifahrer. Als der Koalitionspoker nach der Bundestagswahl härter wird, wird Hilde in das politische Ränkespiel verwickelt. Gleichzeitig kämpft in der Abgeschiedenheit einer Klinik auf dem Venusberg die junge Logopädin Sonja Engel mit Willy Brandt um seine Stimme, die ihm noch in der Wahlnacht versagte. Doch auch sie gerät unter Druck. Beide Frauen sind erpressbar. Für Hilde steht ihre Existenz auf dem Spiel, Sonja will ihre kleine Schwester beschützen. Wie werden sie sich entscheiden?

In „Bühlerhöhe“ durfte der Leser Konrad Adenauer über die Schulter schauen und eine spannende Geschichte erleben. Nun ist der neue Roman von Brigitte Glaser erschienen und wieder bleibt nur eins: Begeisterung! „Rheinblick“ bringt einen Willy Brandt und den Bonner Politikzirkus nahe, auch ein Kriminalfall um eine junge tote Frau sorgt für Spannung, und dazu hat man die ganze Zeit die 1970er vor Augen. Eine andere Zeit, ein anderes Lebensgefühl als heute. „Rheinblick“ bietet ungeheuer viel für nur einen Roman! Tessa Mittelstaedt liest voller Emotion, bringt unterschiedliche Stimmlagen ein, sie spielt die Charaktere und liest sie nicht nur vor. Hörprobe

Rheinblick

Auch als Hardcover erhältlich bei List, 20,00 Euro

Hörbuch Hamburg, 8 CDs, 590 Minuten; 20,00 Euro


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